Am 31.12.2019 wurden aus der Stadt Wuhan in China der Weltgesundheitsorganisation einige festgestellte Fälle von Lungenentzündung gemeldet, die dort ein paar Tage zuvor aufgefallen waren und von einem unbekannten Virus verursacht wurden. Ende Januar 2020 erreichte das Virus Deutschland, in der zweiten Märzwoche waren alle Bundesländer betroffen – und bereits 5.000 Menschen im Land infiziert. Tendenz: stark steigend.
Um es gleich vorweg zu nehmen: wir vom Kuckuck können und wollen hier keine Corona Liveberichterstattung machen. Was bei Redaktionsschluss am 17.3.2020 noch top aktuell ist, wird bei Erscheinen dieser Zeitung bereits hoffnungslos veraltet sein. Wir ersparen uns daher nützliche Tipps zum Händewaschen und Niesen, verzichten auf Fallzahlen und eine große Zeitlinie – und wollen uns lieber mit dem beschäftigen, was nach Corona kommen könnte.
Lesetipp an die Kuckucks-Archivare in 50 Jahren: traditionell bringen wir an dieser Stelle den Aprilscherz. In diesem Jahr ist der „Scherz“ weiter hinten im Heft.
Krise? Ja, bitte.
Bereits heute ist völlig klar: die Corona Krise wird kein Spaß. Die drastischen Maßnahmen, die vor allem dem Schutz der älteren Bevölkerung dienen, lassen bereits heute massive Konsequenzen für unser gesellschaftliches Zusammenleben und die Wirtschaft erkennen. Existenzängste beim einen, Lagerkoller beim anderen, die individuelle Erfahrung vermag durchaus traumatisch verlaufen. Aber: es gibt Hoffnung.
Doch eins nach anderen. Was bitte ist denn so eine Krise? Nun, das Wort Krise stammt aus dem Griechischen und bedeutet sinngemäß „Entscheidung“. Eine hochgradig zugespitzte Situation fordert uns auf, uns zu ent-scheiden. Althergebrachtes muss über Bord und Raum für Neues will geschaffen werden – und das, obwohl niemand gerne Veränderungen um sich herum erträgt. Wie kann das nur gut gehen?
Die Tragik der Allmende
Überfischung der Weltmeere, Abwässer in Bächen, Luftverschmutzung, … schon seit über 250 Jahren wissen wir, dass es bestimmte Verhaltensweisen gibt, von denen es gut wäre, wir würden sie alle einhalten. Aber: weil wir nicht sicher sein können, dass die anderen sich auch daran halten, machen wir es eben auch nicht. Der Klimawandel lässt grüßen. Das ist die Tragik der Allmende – und sie trifft uns auch in der Corona Krise.
Insbesondere um unsere älteren Mitmenschen zu schützen, müssen wir alle einen Gang zurückschalten. Soziale Kontakte müssen auf ein Minimum herabgesenkt werden, auch wenn sich der praktische Nutzen nicht in jeder Situation sofort erschließt.
Neben der Skepsis dem Nächsten gegenüber führt der rasante Wandel dieser Tage auch zu geradezu absurden Situationen. Als der Ortsbeirat am 12. März die Schließung des Dorfgemeinschaftshauses verkündete und den Vereinen und der Kirche dringend nahelegte, sämtliche Aktivitäten einzustellen, zogen die meisten Vereinigungen mit – doch ausgerechnet die Singstunde des Männergesangsvereins sollte weitergehen. Angesichts des Durchschnittsalters der beteiligten Akteure und der offiziell verkündeten Sterblichkeitsrate (8% bei >70 Jahre, 14.8% bei >80 Jahre) fasste sich mancher Entscheidungsträger fassungslos an den Kopf.
Doch um es klar zu sagen: die Freunde der Singstunde verhielten sich völlig normal. Niemand geringeres als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärte den verwunderten Deutschen erst am selben Tag, dass man jetzt endlich „auf Fußballspiele, große Konzertes oder Partys, auf alles, was nicht dringend erforderlich ist“ verzichten solle. Über Schulschließungen wagte noch kein Verantwortlicher öffentlich nachzudenken. Schon damals zeichnete sich ab, dass es wohl nur mit Appellen nicht funktionieren würde.
Aufbruch ins Ungewisse
Überraschenderweise kamen die politisch Verantwortlichen in weiten Teilen Deutschlands in einer bisher ungekannten Geschwindigkeit zu Entschlüssen, deren Tragweite sich heute nicht mal ansatzweise absehen lässt. Die Schließung aller Schulen und nicht lebensnotwendigen Geschäfte ist da nur der vorläufige Höhepunkt bis zum Redaktionsschluss. Die Europäische Union spricht bereits davon, dass der „wirtschaftliche Wiederaufbau der EU“ noch vor der Bekämpfung des Klimawandels ansteht, sobald das Virus besiegt sei. Was aber auch noch ein Jahr dauern kann.
Ungewissheit ist nicht besonders beliebt in Deutschland. Wir mögen es nicht, wenn Dinge „ungewiss“ sind. Wir wollen eben wissen, was wir für unser Geld oder unser Engagement bekommen. Wir vom Gemeindearchiv wagen an dieser Stelle einmal einen Blick nach vorn.
100 Arbeitsplätze in Mellnau
Wer nicht gerade in einem „systemrelevanten“ Beruf arbeitet, darf in diesen Tagen ins Homeoffice ziehen. Und es funktioniert: nicht nur die normalen Verwaltungsangestellten arbeiten auf einmal von zu Hause, selbst Werkstattmitarbeiter aus dem produzierenden Pharmagewerbe werden auf einmal in die Lage versetzt, ihre Apparaturen über das Internet bedienen zu können. Nimmt man noch ein paar Telefon- und Videokonferenzen mit hinzu, entpuppt sich die Arbeit im Homeoffice als eine interessante Alternative – vor allem auch für diejenigen, die sonst weite Wege zur Arbeit hinzunehmen haben.
Erfreulich ist an dieser Entwicklung auch, dass jetzt endlich einmal glasklar wird, wofür ein Dorf wie Mellnau ein Gigabit-taugliches Glasfaser-Internet braucht. Wer bisher immer dachte, dass das Internet mehr Spielzeug als Werkzeug sei, stellt nun fest, dass 20 Videostreams eben Bandbreite brauchen – zum Beispiel, wenn eine Lehrerin von zu Hause aus gleichzeitig ihre Klasse sprechen will.
Wenn wir über Homeoffice sprechen, kommt ein ganzer Strauß an Themen zusammen: Lebensqualität, Zeitsouveränität, New Work, Klimaschutz – und ja, sogar unser freies WLAN leistet hier einen Beitrag. Denn die Tatsache, dass von der Burg bis in die Kirche oder ins DGH kostenloses WLAN vorhanden ist, unterstützt die neue Art des souveränen Arbeitens in einer Weise, wie man sie in unserer Region kein zweites Mal findet.
„So sauber war das Wasser hier noch nie“
In Mellnau haben wir zwar mit Wasser keine nennenswerten Probleme, andernorts aber schon. Aus Venedig kam Mitte März die Meldung, dass das Wasser in den Kanälen so sauber sei, dass man endlich wieder hindurchsehen könnte. Nun müssten wir uns in Mellnau nicht zwangsläufig die Probleme in Venedig zu eigen machen – aber auch hier werden sich Auswirkungen auf die Umwelt messen lassen, je mehr die Industrie die Produktion herunterfährt. Gerne erinnern wir an dieser Stelle an Susi Suiters Leserbrief im Sommer 2017, in dem sich die Autorin über die verschwundenen Insekten wunderte und zur Hilfe aufrief. Nun springt ihr offenbar ein Virus zur Seite.
Man stelle sich einmal vor, in Deutschland wäre ein Leben ohne automobile Massenproduktion möglich. Vielleicht könnten wir dadurch sogar ein paar Kohlekraftwerke einsparen. Wenn das so wäre, wäre es dann wirklich in jedem Fall sinnvoll, wieder zum alten Normalzustand zurückzukehren?
Schlauer als die Polizei erlaubt
Eine andere spannende Nach-Corona-Frage tauchte kürzlich in einer Whatsapp-Gruppe voller Lehrer auf. Wir erinnern uns: derzeit sind alle Schüler zu Hause – und viele Eltern ebenfalls. Die Schüler haben die Ansage bekommen, zu Hause zu lernen. Das Land stellt interaktive Lernplattformen bereit, es gibt Youtube-Tutorials und allerlei andere Darreichungsformen – und eben auch ein paar engagierte Eltern, die ihren Kindern etwas vermitteln wollen.
Doch zurück zu dem eingangs erwähnten Lehrer: der fragte seine Kollegen, was denn passieren würde, wenn nach den „Corona Ferien“ die Noten der Schüler auf einmal besser wären als sonst.
Auf einmal wird deutlich: die Krise zwingt unser Schulsystem über Nacht in einen völlig neuen Arbeitsmodus – und es ist zumindest nicht völlig ausgeschlossen, dass dabei am Ende etwas besseres entsteht als das, was wir vor Corona zurückgelassen haben. Und warum auch nicht? Wer einmal den Youtube-Star Lehrerschmitt erlebt hat, der mit 1.500 Videos nahezu jede Mathe-Problem mit größtmöglicher Leidenschaft erklärt, der erkennt wie es ist, wenn jemand für eine Aufgabe berufen ist.
Lokales Schaffen statt neuer Seidenstraße
Denken wir aber auch ruhig mal eine Spur größer: die Globalisierung. Die Roads & Belt Initiative Chinas (gerne auch „neue Seidenstraße“ genannt), hat zum Ziel, die Transportwege von China nach Europa massiv zu beschleunigen. Bis 2025 soll der Brenner-Basis-Tunnel die obere Adria mit dem süddeutschen Raum verknüpfen, womit ganz nebenbei statt jährlich bisher 10.000 Güterzüge dann etwa 25.000 Züge aufs Gleis Richtung Deutschland gesetzt werden. Dazu kommen noch die Verbindungen über die Türkei und Russland. Kurzum: wenn wir es wollen, könnten wir innerhalb weniger Tage so ziemlich jedes Ding aus China ordern. Außer natürlich, wenn die globalen Warenströme zusammenbrechen – in Ansätzen erahnen wir heute, das so etwas tatsächlich möglich ist.
Und ja, es gibt Alternativen. Faktisch ist es doch so: wir brauchen nicht jedes Jahr ein neues iPhone, irgendein billiges Plastikspielzeug oder Klapp-Liegestühle für 5 Euro das Stück. Wir müssten auch nicht zwingend alles und jedes neu kaufen. Stattdessen könnten wir uns auch auf uns selber besinnen und einmal darüber sprechen, was wir „vor Ort“ erledigen können. Wer baut denn zum Beispiel selber Kartoffeln an? Wer hält Hühner? Wer kann Autos oder Computer reparieren, Kinder unterrichten, Kleidung nähen oder ein paar Fitnessübungen mit einer Gruppe machen? Und ja: wir könnten sogar darüber nachdenken, ob wir wirklich immer noch Öl aus Arabien oder der Nordsee holen müssen, um unsere Häuser zu heizen.
Machen wir die Probe aufs Exempel: falls die Wirtschaft tatsächlich großflächigen Schaden nimmt, werden viele von uns finanziell einen Gang zurückschalten müssen. Ständiges Remmidemmi am Wochenende, das große Netflix-Abo oder ausschweifende Shopping-Touren auf Amazon müssen dann vielleicht ein paar Jahre zurückstehen. Das wäre doch ein guter Moment, sich zu überlegen, ob wir vor Ort nicht auch etwas weniger materialistisch klarkommen würden. Für die Gemeinschaft wäre ein Netz aktiver Nahversorger jedenfalls kein Nachteil. Im Gegenteil.
Jeder von uns macht einen Unterschied
Wir – hier in Deutschland, hier in Mellnau – sind eine Gemeinschaft, die ein Ziel hat. Wir wollen die Corona Krise gemeinsam überwinden. Das wird dauern und es wird Rückschläge geben, doch jeder von uns hat es in der Hand, diese Herausforderung jeden Tag aufs neue anzugehen. Von der Hust- und Niesetikette wollen wir hier nicht mehr reden – die ist mittlerweile Selbstverständlich. Wir denken da weiter.
Ganz konkret: das Vereinsleben kommt zum Erliegen – und wir brauchen neue Formen, wie wir gemeinsam Dinge erleben können, ohne uns dabei zu nahe zu kommen. Auch wir vom Gemeindearchiv wollen hier gerne einen Beitrag leisten und ermuntern alle Vereine auf mellnau.de, den Newsletter, auf nebenan.de oder über den Kuckuck zu kommunzieren. Macht Videos, Podcasts, schreibt Artikel – was auch immer passt. Für neue Ideen und Vorschläge sind wir absolut offen.
Und vergessen wir auch unsere Kneipe nicht: irgendwann kommt sicher wieder der Tag, an dem wir in der Kuckuckshütte werden sitzen können. Doch sie muss bis dahin unterhalten werden. Ohne Gäste kann die Pacht nicht eingespielt werden – und es zeichnet sich ab, dass unsere Wirtin und der Heimat- und Verkehrsverein Hilfe benötigen. Eine Mitgliedschaft im Verein oder auch eine Spende wären eventuell ein erster Ansatz, hier ganz konkret zu helfen.
Hilfe wird dieser Tage an vielen Stellen benötigt – und gerne weisen wir auch hier darauf hin, dass sich auf nebenan.de die Gruppe „Du bist nicht allein“ gebildet hat. Wer Hilfe beim Einkaufen braucht oder sich aus gesundheitlichen Gründen schlichtweg nicht in die Stadt traut, findet dort Telefonnummern und Kontaktdaten von derzeit 16 Mellnauern, die für Einkaufshilfen und ähnliches zur Verfügung stehen. Und wer selbst nicht online ist oder sein kann, der fragt einfach mal seinen Nachbarn.
Mut zur Veränderung
Trotz aller Unannehmlichkeiten, Ängste und Sorgen die diese Krise bereitet, sollten wir uns darauf besinnen, dass wir in einer Zeit großer Chancen leben. Es sind Dinge in einer gesellschaftlichen, politischen und finanziellen Größenordnung in Bewegung geraten, die sich durchaus mit dem Fall der Mauer vergleichen lassen.
Es ist die jüngere Generation, die in dieser Situation erhebliche Opfer bringen muss. Die Bewegungsfreiheit einzuschränken, soziale Kontakte zu minimieren, mit Kindern und Partnern auf engstem Raum zusammenzuleben und dazu noch die Ängste, die sich aus dem möglichen Verlust des Arbeitsplatzes ergeben – all das kann durchaus auch Menschen oder Familien zerbrechen lassen.
Der Einsatz der Jüngeren könnte durchaus als Symbol dafür herhalten, was nach der Krise geschehen muss. Stichwort: Klimawandel. Jetzt helfen die Jüngeren den Älteren dabei, die Zeit bis zur Entwicklung des Impfstoffs zu überstehen. Und wenn sich die Älteren danach daran erinnern, dass die FridaysForFuture-Generation auch noch Unterstützung bei der Lösung „ihrer“ Probleme benötigt, wäre doch allen geholfen.
Wir können und sollten diesen Wind of Change nutzen, die Dinge vor Ort zum besseren zu wenden. Bleibt gesund. Bleibt zuversichtlich.
Text: Andreas W. Ditze