Aus Spaß wird Ernst – wie das Ehrenamt seine Aktiven auffrisst

Wenn drei Deutsche zusammen kommen, gründen sie erst einmal einen Verein – so heißt es jedenfalls im Volksmund. Und tatsächlich ist die Vereinslandschaft in Deutschland traditionell vielfältig. Rund 31 Millionen Menschen engagieren sich in ihrer Freizeit für das Gemeinwohl. Auch in Mellnau.

Aktive und vielseitig engagierte Bürgerinnen und Bürger kennzeichnen das Leben in unseren Dörfern. Die hohe Bereitschaft, sich freiwillig für eine Sache einzusetzen, zeigt einen wesentlichen Unterschied der ländlichen Regionen gegenüber den Ballungsräumen. Doch was genau ist das eigentlich, so ein „Ehren“-Amt?

Im ursprünglichen Sinne ging es beim Ehrenamt um unentgeltliche öffentliche Funktionen, zum Beispiel als Magistrat oder Ortsbeirat. Im Laufe der Zeit wurde der Begriff verallgemeinert und steht heute umgangssprachlich für bürgerschaftliches Engagement.

Die Gründe für ein freiwilliges Engagement sind individuell: Dazu gehören vor allem der Spaß an der jeweiligen Tätigkeit, die Chance, etwas für das Gemeinwohl zu tun und sein Umfeld zumindest im kleinen Rahmen mitzugestalten, sowie die Gelegenheit, den eigenen Horizont zu erweitern und neue Fähigkeiten zu erlernen. Vor allem junge Menschen bewegt oft der Wunsch, etwas gemeinsam mit anderen zu erleben und sich dabei vielleicht auch weiterzubilden. Die Älteren möchten eher ihre Kenntnisse an andere weitergeben und auch nach der Berufstätigkeit einer sinnvollen Aufgabe nachgehen.

Die Deutschen und ihre eingetragenen Vereine

Traditionell ist in Deutschland ehrenamtliche Arbeit in Vereinen organisiert, für gewöhnlich „gemeinnützige Vereine“. Diese e.V.‘s sind steuerlich begünstigt, d.h., sie können Spendenquittungen ausstellen, so dass Spenden an einen Verein in der Regel zu 20% direkt von der Steuerlast des Spenders absetzbar sind. Um diese Privilegien halten zu können, müssen Vereine eine gewisse Form wahren. Es braucht einen Vorstand inklusive Kassenwart und Schriftführer, Kassenprüfer, protokollierte Jahreshauptversammlungen und alle paar Jahre einen schriftlichen Austausch mit dem Finanzamt, damit die Gemeinnützigkeit auch wirklich erhalten bleibt.

Doch viele Vereine in der Bundesrepublik stehen am Scheideweg. Überalterung, Mitgliederschwund und fehlendes Engagement zwangen fast 16.000 Vereine in den letzten 10 Jahren zur Aufgabe. Das für die Kommunen so wichtige ehrenamtliche Engagement scheint wegzubrechen. Auch in Mellnau erleben wir diesen Umbruch, nicht zuletzt durch die Auflösung des Turn- und Sportvereins mit immerhin 300 Mitgliedern oder auch die Auflösung des Vereins Carpe Diem.

Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wohin es mit unseren dörflichen Vereinen geht. Brauchen wir sie überhaupt noch? Und falls ja: wer will die Arbeit denn noch machen? Höchste Zeit für eine Analyse.

Vereine! Wozu?

In Mellnau sind derzeit noch neun aktive Vereine ansässig. Wir haben große und aktive Vereine, wie zum den Heimat- und Verkehrsverein, die Burschen- und Mädchenschaft, das Mellnauer Gemeindearchiv, den Männergesangsverein oder die Freiwillige Feuerwehr und auch kleinere Vereine wie den Angelverein, die BI Windkraft oder Medde im Dorf, den Trägerverein der Schulscheune. Und wir haben noch den Verein der Vereine – die Mellnauer Vereinsgemeinschaft. Darüber hinaus gibt es noch ein paar Vereine in der Nachbarschaft, die auf Mellnau ausstrahlen. Der Fußballverein, der Förderverein der Grundschule oder auch die AG Rettet den Burgwald sind Vertreter dieser Gattung. Rechnet man dann noch Aktive für Kirchenvorstand, Kirchenchor, Ortsbeirat und Stadtparlament hinzu, bekommt man eine Ahnung, in welcher Größenordnung Aktive gebunden sind.

Wir rechnen nach: jeder Verein braucht mindestens drei Leute im Vorstand sowie für gewöhnlich Beisitzer und Kassenprüfer. Rechnet man nur 5 Aktive pro Vereinsvorstand, brauchen wir locker 50 Aktive, um unsere dörflichen und dorf-nahen Vereine, Gruppen und Institutionen rein formal am Leben zu halten. Wohlgemerkt: nur für die Formalien! Dazu kommen noch einmal mindestens 12 Leute für den anteiligen Kirchenvorstand, den Ortsbeirat und das Stadtparlament. 62 von 764 Leuten mit Hauptwohnsitz in Mellnau (sprich: 8,1%). Rein rechnerisch klingen 8,1% nicht sehr viel, faktisch ist es aber nicht zu schaffen. Denn: rechnet man die Kinder und Hochbetagten heraus, sind wir schon bei 15% an Leuten, die sich engagieren müssten.

Demographie und die Sache mit dem Pillenknick

In der Zeit von 1955 bis 1969 wurden in Deutschland jährlich extrem viele Kinder geboren, der Höhepunkt lag 1964 bei 1.357 Millionen. Zum Vergleich: der Jahrgang 2002 hatte gerade einmal halb so viele Geburten – wir reden hier von der Generation derjenigen, die nächstes Jahr volljährig werden. Was gemeinhin als Pillenknick verniedlich umschrieben wird, ist in Wahrheit ein Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungen und ein Problem mit gewaltiger Sprengkraft.

Die Geburtenraten pro Jahrgang hat sich seit dem Ende der 1960er Jahre nahezu halbiert. Eine Entwicklung mit dramatischen Konsequenzen – nicht nur für die Vereine.

Im Laufe der letzten 70 Jahre haben wir uns für die ehrenamtliche Arbeit Strukturen geschaffen, die gut funktionierten, solange wir genügend Leute dafür hatten. Jetzt aber steuern wir auf einen Punkt zu, in dem jedes Jahr über eine Millionen Leute neu „in Rente gehen“ und den jüngeren nach und nach das Ruder überlassen wollen. Und parallel dazu sehen sich die Mittelalten aus der Generation X damit konfrontiert, gleichzeitig Kinder und Eltern umsorgen zu müssen. Wohlgemerkt bei deutlich verringerten Jahrgängen. Kein Wunder, dass unter diesen Rahmenbedingungen die Vereinsarbeit leidet.

Alles wird schneller, nur der Bus aus Marburg bleibt langsam

Doch die Veränderung ist nicht nur das Ergebnis von Demographie. Die veränderte Lebensgestaltung und die stetig steigende Schnelligkeit des Alltags führen immer öfter dazu, dass viele Arbeitnehmer zeitlich flexible Fitnessstudios dem lokalen Sportangebot vorziehen, oder sich am Ende gar nicht mehr sportlich betätigen. Wer kann denn heute noch sicher zusagen, dass er jeden Mittwoch um 17 Uhr auf dem Sportplatz stehen kann? Und bei den Kindern ist es kaum besser. Auch ihre Tage sind eng getaktet, der Schulbus aus Marburg ist selten vor 14.30 Uhr wieder im Ort. Kein Wunder, dass am Ende WhatsApp, Youtube oder die Playstation einfacher zu nutzen sind als die wenigen freien Stunden nun auch noch für einen Verein aufzubringen.

Jeder für sich und Gott für uns alle?

Michael Vilain ist Professor an der Evangelischen Hochschule in Darmstadt (EHD). Er beschreibt den Wandel in der Gesellschaft mit eindrücklichen Worten: „Bekannt ist, dass die Bindungskraft von stark Milieu-gebundenen Organisationen dramatisch nachlässt. Traditionelle Milieus wie das bürgerlich-liberale, katholisch-konservative oder sozialdemokratische schwinden und mit ihnen die Mitglieder vieler großer Parteien und Verbände. Bekannt ist auch, dass sich das Arbeits- und Freizeitverhalten der Menschen massiv verändert. Es gibt immer mehr Alternativen zum freiwilligen Engagement: Fernsehen, Internet oder kommerzielle Angebote wie Shopping oder Fitnessstudios nehmen immer mehr Raum bei den Bundesbürgern ein und stehen somit in Konkurrenz zu einem Engagement. Zugleich wird das Leben vieler Menschen immer vielschichtiger und individueller. Bildungs-, Berufs- und Familienphasen wechseln sich stärker ab, die Mobilität nimmt zu. Das alles führt zu höheren Anforderungen an die Vereine, die viele ratlos zurück lassen.“

Traditionelle Milieus verschwinden

Was bei Professor Vilain noch etwas abstrakt klingt, konnte man kürzlich bei uns im Dorf sehr schön beobachten. Am 25. Oktober 2019 lud die SPD zu einem politischen Stammtisch in die Kuckuckshütte ein. Die Genossen kamen mit sieben Leuten nach Mellnau um darüber zu sprechen, wie sie bei der Finanzierung der Burgrenovierung helfen könnten und um zu hören, wo den Bürgern der Schuh drückt. Als SPD-Hochburg gingen sie natürlich davon aus, dass zumindest ein paar Mellnauer der Einladung folgen würden – sogar im Wetteraner Boten wurde kostenpflichtig darum geworden. Im Ergebnis kam gerade einmal ein Mellnauer dorthin… und der war auch „nur“ ein zugezogener. Wie sagte der Professor so schön? „Die Bindungskraft von stark Milieu-gebundenen Organisationen […] lässt dramatisch nach.“ Genauso ist es.

Die Abstimmung mit Füßen ist im vollem Gange

Ob es uns gefällt oder nicht, der Trend raus aus den Vereinen ist voll im Gange. Und dieser Trend erfasst Parteien, Verbände, Gewerkschaften und auch die Kirchen.

15.547 Vereine in ländlichen Regionen haben sich seit 2006 aufgelöst und wurden aus den Vereinsregistern gelöscht. Die Auflösung von Vereinen ist damit ein vorwiegend ländliches Phänomen. Bestehende Vereine in ländlichen Regionen kämpfen besonders häufig damit, neue Engagierte zu gewinnen. Auch ihr Bestand ist damit gefährdet. Glaubt man dem Ziviz Survey 2017 der Bertelsmann Stiftung, gibt es hierzu aber auch eine gegenläufige Entwicklung: insbesondere Fördervereine für bestimmte Projekte oder Institutionen werden in großer Zahl neu gegründet, so dass in Stadt und Land zusammengenommen die absolute Zahl der Vereine von 416.861 im Jahr 1995 auf 603.882 im Jahr 2016 gestiegen ist.

Aus: ZiviZ-Survey 2017

Notfusionen der Vereine?

Die Zusammenschlüsse des Männergesangvereins sowie Institutionen wie Kirche und Feuerwehr sind eine Reaktion auf diese Entwicklung und grundsätzlich positiv zu bewerten – zumindest vor dem Hintergrund, was die Alternative gewesen wäre. Schließung, Stilllegung, Abschaffung.

Immerhin fördern diese Zusammenschlüsse den so wichtigen Zusammenhalt der Dörfer in unserer Region. Doch letztlich sind auch sie aus der Not entstanden, da die ursprünglichen Strukturen, wie sie waren, nicht mehr aufrecht gehalten werden konnten.

Die Vogel-Strauß-Strategie droht zu scheitern

Eine Folge des Verlusts der „Bindungskräfte“ ist, dass sich das ehrenamtliche Engagement auf immer weniger Schultern verteilt. Die Aktiven stehen dabei vor dem Dilemma, dass sie aufgrund ihrer starken Einbindung vor Ort sofort erkennen, an welchen Stelle „noch ein Vorstand“ oder „nur noch ein Schriftführer“  benötigt wird. Oft genug lassen sich diese Leute dann zu noch einem Amt breitschlagen, mit dem Effekt, dass das ehemals freiwillige Engagement  auf einmal zu einem Pflichtgefühl wird. Und schlimmer noch: statt wirklich in der Sache arbeiten zu können, geht die freiwillige Arbeitszeit auf einmal für das Einziehen von Mitgliedergebühren, dem Schreiben von Protokollen oder Bearbeiten von Mitgliederbeschwerden drauf. Es geht nicht mehr vorwärts, der Frust ist vorprogrammiert!

An diesem Punkt beginnt eine Abwärtsspirale mit fatalen Konsequenzen. Je mehr Druck auf der Vereinsseite entsteht, desto mehr Zeit muss tendenziell für die Vereine aufgewandt werden. Wer ohne Kinder und Partner lebt, kann das womöglich noch leicht organisieren – mit Kind und Kegel sieht die Welt jedoch ganz anders aus. Schnell entsteht auch da der Frust, wenn Papa oder Mama mehr fürs Dorf als für die eigene Familie da ist.

Jeder ist sich selbst der Nächste

Kaum ein Ehrenamtler bei uns im Dorf erwartet ernsthaft Dank für das, was er im Dienste des Vereins und für die Allgemeinheit tut. Leider ist es aber auch so, dass ehrenamtliches Engagement mitunter heftige Kritik auf den Plan ruft. Als der Heimat- und Verkehrsverein kürzlich zur Abschreckung von Vandalismus auf dem von ihm gepachteten Gelände der Burg Kameras montieren wollte, gab es ernsthaft Stimmen im Dorf, die das gerichtlich überprüfen wollten. Statt das Ehrenamt konstruktiv zu unterstützen schimmerte hier eine Grundhaltung durch, die sehr um die eigene Komfortzone kreiste. Frei nach dem Motto: „Ich will, dass auf der Burg alles so bleibt wie es ist. Und wenn der Schrägaufzug, der Robo-Rasenmäher, die Bänke und Tische, der Geräteschuppen oder die Kuckuckshütte kaputtgeschlagen werden, wäre es schön, wenn der Verein das schleunigst wieder repariert. Von wessen Geld, ist mir egal, Hauptsache nicht von meinem.“

Diejenigen, die für die Allgemeinheit bereits auf Überlast laufen, werden angesichts solcher Ausfälle zunehmend dünnhäutiger. Im Ergebnis schmeißt mancher – verständlicherweise – einfach hin. Und andere winken ab, wenn die Vorstands- oder Wahlperiode am Ende ist.

Traditionelle e.V.’s werden durch neue Rechtsformen ergänzt

Eine Antwort auf diese Veränderung kann die Konzentration auf Projekte sein. Dank der Digitalisierung und insbesondere der neuen Möglichkeiten zur Vernetzung können gleichgesinnte sich relativ schnell finden und ihre Interessen koordinieren. Wo vor 20 Jahren noch ein wöchentliches Treffen nötig war, um die Mitglieder zu koordinieren, genügt heute eine WhatsApp. Natürlich geht dabei auch etwas verloren, das gesellige, integrative und vermeintlich soziale. Nur: diejenigen, die gemeinsam etwas bewegen wollen, verfolgen andere Ziel. Ihnen geht es zunächst einmal um ein Anliegen in der Sache – und wenn sich daraus noch Geselligkeit ergibt, ist das ein angenehmer Nebeneffekt, aber eben keine Voraussetzung. Und auch in Mellnau erleben wir bereits erste Vorläufer. Die Mellnauer Weibsbilder sind kein klassischer Verein, bewegen aber vom Glitzermarkt bis hin zum Fußballerheim eine Menge.

Und es geht noch eine Nummer größer: während der Mellnauer Energiefahrt im Jahr 2018 lernten wir in Ostdeutschland, dass man mit einer gemeinnützigen GmbH (gGmbH) sogar einen ganzen Ort mit Strom, Wasser und Internet versorgen kann. Auch Genossenschaften oder Stiftungen sind denkbar.

Engagement, aber nicht fürs Protokoll

Für die These, dass das Ehrenamt sich vom klassischen Vereinsleben wegbewegt, spricht auch der Blick in die Statistik. Auch wenn die Zahl der Vereine abnimmt, ist bundesweit in den letzten fünfzehn Jahren die Quote derjenigen, die sich sozial engagieren, um knapp zehn Prozentpunkte gestiegen. Dies sei vor allem auf gesellschaftliche Veränderungen zurückzuführen. In den Altersgruppen 14 bis 29 Jahren und 30 bis 49 Jahren liegen laut dem Freiwilligensurvey 2014 die Anteile Engagierter am höchsten. Viele ehrenamtlich Tätige kommen aus der gesellschaftlichen Mittelschicht, sind berufstätig und gut ausgebildet. Zudem ist ein besonders starker Anstieg, nämlich um 17 Prozentpunkte, bei Schülerinnen und Schülern zu beobachten.

Gestalten statt verwalten

Wir vom Mellnauer Gemeindearchiv möchten mit diesem Artikel dazu anregen, dass wir ganz offen darüber nachdenken und diskutieren, wie unsere Vereinslandschaft in den nächsten Jahren aussehen soll. Mehrere Vereine suchen bereits jetzt aktiv nach neuen Vorständen – doch dass immer dieselben Leute noch mehr Aufgaben übernehmen, kann nicht mehr die Antwort sein. Auch durch unser Ehrenamt haben wir eine hohe Lebensqualität und einen hohen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und wir wünschen uns, dass das so bleibt. Lasst uns also den Wandel gestalten statt ihn nur zu verwalten.

Text: Armin Völk, Andreas W. Ditze

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