Ein Ausflug in die 70er

Blick ins Archiv

Mitte der 70er Jahre versuchten drei angehende Sozialpädagogen mit außerschulischer Jugendarbeit einige interessierte Jugendliche zu motivieren, sich bewusster mit ihrer Umwelt und ihrem Leben in Mellnau auseinanderzusetzen. Es entstanden einige aufschlussreiche Projekte um ländliche Strukturen und den gesellschaftlichen Umgang miteinander. Die erste Dorfzeitung wurde publiziert, der Jugendclub entstand. Nicht wenige Dorfbewohner sahen die Ereignisse um den Jugendclub recht kritisch, das Aufbegehren der politischen Jugend brach doch einige bürgerliche Tabus.

Trotzdem darf diese Entwicklung als Grundstein für die spätere „Spurensicherung“ gesehen werden, aus der schließlich auch das Mellnauer Gemeindearchiv entstand. Ende November 2019 fand ein Gesprächskreis mit beteiligten Personen statt, um diese spannende Zeit der Mellnauer Geschichte genauer zu beleuchten. Hierüber werden wir in folgenden Ausgaben umfassend berichten.

Ein weiteres Produkt dieser Zeit war das Buch „Jugendarbeit auf dem Land“, das von Theo Kinstle, Udo Pobel und Sybille Schlegel 1978 veröffentlicht wurde. Er beschreibt unter anderem eine Momentaufnahme der damaligen Zeit aus Mellnau, die wir hier gekürzt wiedergeben möchten. Für Interessierte stehen einige wenige Exemplare des Buches im Archiv zur Verfügung.

Ortsbeschreibung: Land und Leute

Mellnau Iiegt im Burgwald, einer Landschaft inmitten weitläufiger, urwüchsiger Wälder. Unmittelbar an den Ort grenzen Laub- und Nadelwald mit stillen Tälern und großem Waldbestand, durchzogen von gutmarkierten Wanderwegen. Der Gast findet in FüIIe Walderdbeeren, Preissel- und Heidelbeeren und kann sich ungestört in Ginster und Heide ausruhen. “ (Prospekt des Heimat- und Verkehrsvereins von Mellnau )

Noch liegt Mellnau zwischen der B 3, die nach Kassel führt, und der B 252, die sich am ‚Cölber Eck‘ von der von Marburg kommenden B 3 trennt und nach Frankenberg führt. Eine Autobahn, die den Hersfelder Raum an das Ruhrgebiet anschließen würde, soll mitten durch den Burgwald führen.

„In jeder Jahreszeit fühlt sich der Gast in Mellnau wohl. Im Frühjahr erlebt er die Baumblüte, im Sommer den WaId mit all seinen Gaben, der Herbst bringt ihm ein besonderes Erlebnis: den röhrenden Hirsch. Auch eine Winterfrische in Mellnau lohnt sich. Immer finden sie verkehrsferne Ruhe und den erholsamen Frieden der Natur.“ (Prospekt des Heimat- und Verkehrsvereins)

Verkehrsferne: Vormittags um 8.50 Uhr fährt der letzte Bus nach Marburg. Die Leute sagen, die Verkehrsverbindungen wurden verbessert. Trotzdem nehme ich oft Leute auf halbem Weg zwischen Mellnau und der vier Kilometer entfernten Kerngemeinde in die eine oder andere Richtung mit. „Jetzt kost ne Fahrt nach Marburg scho Zweimarkzwanzig.“ Jedenfalls zieht sich der Weg für den, der zu Fuß geht, ganz schön: vier Kilometer.

„Wir haben ja den innerstädtischen Verkehr eingeführt“, sagt der erste Stadtrat, „im Westteil haben wir ihn ja noch nicht. Aber dieser innerstädtische Verkehr wird dort auch mit dem Bau des Kindergartens kommen. Wir haben aber festgestellt, dass der innerstädtische Verkehr von der Bevölkerung überhaupt nicht angenommen wird. Wir zahlen und zahlen, aber wir sind ja gezwungen durch den Kindergarten hier in Mellnau, hier im Ortsteil, den Verkehr weiter laufen zu lassen.“

Die meisten Auspendler gehen nach Marburg (ca. 65%) An zweiter Stelle liegt die Kerngemeinde. (Elektronik, Kleiderfabrik, Zimmerei, Anstreicherbetriebe) „Ja, und dann gehen die einen nach Frankenberg, die andern nach dem Müller in Gönnern auf den Bau und wieder andre gehen nach Goßfelden in die Eisenwerke.“ Ein metallverarbeitender Betrieb macht Verschlüsse für Flaschen.

Dorfidylle vor der Schule

Zwei Frauen in Mellnau bringen sich da immer etwas mit und machen Heimarbeit. Dann gibt es zwei Firmen, die haben Putzkolonnen – die holen die Frauen in eigenen Bussen ab und bringen sie abends auch wieder zurück.

In Mellnau selbst gibt es nur zwei kleinere Handwerksbetriebe: eine Schreinerei und eine Schlosserei, die Installationsarbeiten macht. Beides sind Familienbetriebe – letztere beschäftigt einen Gesellen. Der Meister: „Wir Unternehmer haben es zunehmend schwerer, besonders hier auf dem Land, wenn man so ein kleiner Betrieb ist wie wir. Ein Schuhmacher repariert noch Schuhe, billig und gut. Von Gewinn weiß er wenig aber „halte muss es. Du darfst net normal mit dem rede – schrei – der hört doch schon schlecht.“

Drei Lebensmittelgeschäfte versorgen die Leute in Mellnau. „Die sin so teuer, dass man es sich scho net mehr leiste kann, dort einzukaufe – aber ich kanns mer auch net leiste, net mehr hinzugehe.“ Eines der Lebensmittelgeschäfte hat auch sonntags geöffnet- und dafür samstags geschlossen. (..)

Es gibt noch viele Misthaufen vor den Häusern, d.h. noch 14 Vollerwerbsbetriebe und 44 Nebenerwerbsbetriebe. Ein Stückchen Garten haben aber fast alle, deshalb gibt es in den Lebensmittelläden auch nie Salat oder Verwandtes zu kaufen – abgesehen vom holländischen im Winter. (..)

Kinder tragen Reklamezettel der Lebensmittelketten, denen die Geschäfte angeschlossen sind, in die Häuser. Das Austragen des Mitteilungsblattes und der Magistratspost ist ebenfalls eine Einnahmequelle. (..)

Nachbarschaftshilfe kann heute leicht zur Schwarzarbeit werden. In der jüngsten Zeit ist man vorsichtig geworden: „Schau mol, do hat mich doch einer angezeicht. Der spricht bei der Polizei, ich hätt Schwarzarbeit gemacht. Der spinnt, das war doch bei meinem Pedda.“ Wir formulieren gemeinsam eine ganz offizielle Antwort auf die Vorladung und schicken sie der Polizeistelle in Marburg. Das Verfahren wird nach einigen Monaten eingestellt. (..) Als mein Nachbar jetzt für zwei Wochen krankgeschrieben war, aber rumlaufen konnte, traut er sich nicht, im Garten hinter dem Haus ein wenig zu arbeiten. Nach vier Tagen tat er es doch – „Ich weiß net, was ich den ganze Tag ohne Arbeit mache soll.“ Aber er zog seine „zweitbeste“ Hose an, wegen der möglichen Kontrollen – „mer kann ja nie wisse!“ (..)

Gefeiert wird ansonsten im Gemeindehaus – nie spontan, immer nur aus Tradition: Konfirmation, Hochzeit, Goldene und Silberne Hochzeit, Beerdigung. Wenn es bei den Nachbarn ist, dann bringen mir die Kinder große Mengen Torten und Kuchen rüber. Solche Feiern sind anstrengend, besonders für die Frau, denn sie kocht, backt, serviert und räumt anschließend auf. Alles ist ziemlich genau festgelegt, für soundso viele Leute Torten, Nudelsalat, Würste und Schnitzel. Ich fragte mal: „Warum nicht mal ReisssaIat?“, da sagte die Nachbarin: „Wenn der gut is, spreche se, die will was besseres sei. Wenn er net schmeckt, spreche se, die spinnt!“.

Mellnau war Kreissieger im Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“. „Dass der X sein Fachwerkhaus mit gelbem Plastik verkleidet hat, sieht doch furchtbar aus – des is net schie. Aber des hat halt was mit´m Geld zu tun.“ Wenn ich die, die ich kenne, auf ein eventuell verkäufliches Fachwerkhaus anspreche, antworten alle:“ Was willste denn mit dem alte Gerempel? Kauf dir was Neues!“

Die „alte Schmiede mit dem Springbrunnen“ im Fremdenverkehrsprospekt vermittelt was von gestern – weil die Touristen das so wollen, nur finden kann man es im Dorf so nicht, wohl weil das optimale Licht für die Belichtung und der buntfröhliche Vordergrund nicht immer so motivgerecht vorhanden sind. Dennoch, Mellnau selbst, mit seiner 7OOjährigen Vergangenheit und seiner Burgruine ist geschichtlich interessant.(..) In ihrer umfangreichen Chronik zur 7OO-Jahrfeier, 1963, kann sich der Gast über die Bedeutung der Burg im Mittelalter informieren. (Fremdenverkehrsprospekt)

Übers Fest gibt es eine Diaschau. Es sind sehr schöne alte Trachten darin zu sehen. Die Leute aus Mellnau freuen sich darüber, wie man damals ausgesehen hat, weil man jetzt älter geworden ist, oder es wird gesagt: „Der und die und der, lebe scho net mehr.“ Aber die kleine Pappburg wird noch immer für festliche Anlässe aufbewahrt.

Der moderne Brunnen vor der Alten Schmiede wird alle Jahre im Frühjahr, schön himmelblau mit Schwimmbadfarbe gestrichen, und wenn es dunkel wird, macht Karl die Strahler für die Burg an, meistens dann, wenn er Gäste in der Wirtschaft sind – auch am 1. Mai war die Burg beleuchtet.

Das Backhaus wird noch gemeinschaftlich, ein- oder zweimal in der Woche benutzt. „Weil das Brot wieder so teuer geworde is, da macht es sich scho bemerkbar, wenn mer selber Brot backt.“ Die meisten Leute kaufen allerdings ihr Brot beim Bäcker, der kommt mehrmals wöchentlich mit dem Auto, hupend, ins Dorf. Einige Einwohner holen sich ihr Brot einfach ab, ohne zu bezahlen. Die geben Korn oder Mehl zum Tausch.

Aber verändert hat sich auch schon einiges. Die Kanalisation liegt schon bis zum Oberdorf. Die ganz hinten, die zum Wald hin wohnen, werden allerdings ihren Kanal erst in zwei Jahren haben. Bis dahin läuft das „leichte Wasser“ noch einfach auf die Straße. Während der Woche, besonders im Sommer, stinkt es auf den Straßen, nur samstags, gegen 17 Uhr, riecht es wohltuend nach Badedas und Lavendel. (..)

Auch die „hässlichen“ alten Holzzäune verschwinden aus dem Dorfbild – „schöne“ neue Versandhaus-Jägerzäune umranden dann die Vorgärten. Besonders der Westhang hat sich zum Prunkstück des Dorfes entwickelt. Hier haben sich die Vorstellungen der Bausparkassen vom modernen Wohnen durchgesetzt. Einige Bauplätze in diesem Neubaugebiet sind noch frei, aber schon vergeben. „Das letzte dort obe hat der Vorsitzende vom x-Verein für seinen Sohn gekauft – der ist scho 17 und scho verlobt.“

Oft treffe ich den alten Lehrer, der nun schon acht Jahre im Ruhestand lebt, in der Poststelle. Gegen 9.30 Uhr kommt gewöhnlich der Postwagen, man kann dann warten, bis die Briefe sortiert sind und die Post gleich mitnehmen. Der Lehrer fragt mich immer, was ich studiere. Dann erzählt er mir jedes Mal, dass er als junger Lehrer arbeitslos war und wie schlimm es für ihn war, dass er aus seiner alten Heimat, Ostpreußen, vertrieben wurde: „Der Krieg war daran schuld, aber ich hab es nie bereut, Lehrer geworden zu sein. Es gibt nichts Schöneres auf der Welt, als mit jungen Menschen umzugehen – was studieren Sie?“

Was außerschulische Jugendarbeit ist, konnte ich ihm bis heute nicht verständlich darlegen, parallelen zur Lehrerarbeitslosigkeit heute sieht er nicht.

Manfred Isenberg, Gertrud Althaus und Johannes Schumacher bei „Dombachs“

Der Posthalter ist Mitglied des Ortsbeirates und in der Partei (SPD). Er arbeitet viel und ist engagiert, obwohl er kurz vor der Rente steht. Zu Allerheiligen und bei Todesfällen bindet er Kränze. Er kann das, weil er früher Gärtner gelernt hat. Einmal, während der Schalterstunden, es war im Sommer und wenig zu tun, traf ich ihn im Schalterraum an – er las Urs Jaeggi. Er erzählte mir die Geschichte von einem Jugendlichen, der zum Arbeitsamt nach Marburg ging: „Wieso Arbeit?“, sagte der Angestellte zum X, „Sie müssen doch sowieso zum Bund!“ Da sagte der X: „Nee, ich verweigere!“ Stellen Sie sich vor, da sagte dieser Mensch im Arbeitsamt: „Verweigern? Schämen Sie sich nicht?“

So moralisch machen die das, die haben aus der Geschichte gar nichts gelernt – nichts! Ich bin froh, dass es heute junge Leute gibt, die über Militarismus nachdenken und das ablehnen. Damals hätte es zum Bürgerkrieg kommen müssen, dann wären die Fronten heute vielleicht klarer.“

In Mellnau gibt es noch eine Grundschule. Im gleichen Haus ist der Kindergarten untergebracht. Der Ortsvorsteher hat im Untergeschoß seine Diensträume. Jeden Dienstag kann man hingehen und z.B. seinen Personalausweis zur Verlängerung abgeben – dies war schon seit jeher so, ist aber erst seit kurzer Zeit wieder möglich, seit die Gesamtgemeinde, durch Eingemeindung eines weiteren Ortes, die 1O.OOO-Einwohnergrenze erreicht hat. Am Anfang des Jahres kann man sich dort Müllmarken oder die Berechtigung für das Losholz holen und das Gemeindehaus für Feierlichkeiten mieten. Probleme bespricht man dort nicht. (..)

Die Kreissparkasse unterhält im gleichen Haus eine Nebenzweigstelle. Es gibt keinen Schalterraum, sondern ein Wartezimmer und so die Möglichkeit, mit dem Sparkassenangestellten, der zweimal in der Woche kommt, seine Geldangelegenheiten im Zimmer nebenan zu besprechen.

Die Kirche ist immer abgeschlossen Als Tourist kann man nur rein, wenn gerade die Putzfrau drinnen ist. Aber die Kirche „funktioniert“ sichtlich am Sonntagmorgen, bei Beerdigungen und bei der Konfirmationen. Die Aufgabe des Pfarrers nimmt im Augenblick ein Vikar aus der Kerngemeinde wahr.

Einer sagt mir: „Da gibt es ein paar Familien, die gehören zu den Pietisten, wissen Sie, guter Pietist – fauler Christ….“ Nun, es gibt da schon Leute, die trinken ihr Bier und rauchen ihre Zigarren. Mit denen kann man sich auch vernünftig unterhalten. Bloß in sexueller Hinsicht sind die etwas verklemmt. Ein nacktes Mädchen irgendwo kann die erschüttern, das ist so deren Richtung. Sexualität ist bei denen schlichtweg Sünde“.

Die Kirche wird sonntags von etwa 35 Personen besucht- meist ältere Menschen. Männer und Frauen sitzen getrennt, nur die Jugend darf zusammensitzen „Mer sitze vorne, da sieht uns der Pfarrer und von hinne die Leut.“ Der Pfarrer hat es nicht leicht. Hier scheint das schon immer so gewesen zu sein: „Johannes Bach … 1624 Diakonus zu Mellnau:, 1625 wegen eines Streites mit dem Pfarrer Rossbächer auf sei’n Ansuchen hin nach Geismar versetzt. “ ‚ Georg Matthäus Vollmer aus X., geb. 10. Nov. 1801, Sohn des Kirchenseniors und Bäckers Joh. Vollmer und dessen Ehefrau Elisabeth … (wurde um 1928) wegen eines Trunkenheitsexcesses beim Hl. Abendmahl…für längere Zeit die Spendung des Kelches entzogen.“ (Festschrift zur Jubiläumsfeier)

Vor der Kirche steht ein Denkmal für die Gefallenen der letzten beiden Kriege. Ein ehemaliger Pfarrer hat dort alte bäuerliche Grabsteine wieder aufstellen lassen, weil die so alt und so schön sind. Leider sind sie technisch falsch aufgestellt, so dass der Sandstein durch die Feuchtigkeit zerstört wird.

Ganz oben steht die Burg – renoviert in Eigenleistung der Einwohner, auf Initiative des Heimat- und Verkehrsvereines hin. Bei schönem Wetter holen sich manchmal Touristen in der nahegelegenen Kneipe dessen Besitzer gleichzeitig der Vorsitzende des Heimat-und Verkehrsvereines ist, den Schlüssel zum Turm. Besonders im Sommer, nachts, ist die Burg ein beliebter Fetenplatz der Jugendlichen. Der Kneipenwirt hat zwar ein Herz für die Jugendlichen, sagt aber, er ist überzeugt, dass ständig irgendwelche Jugendliche die dort aufgestellten Bänke zerlegen und verfeuern. Der Ortsvorsteher sagt dazu – vielleicht, weil er in der Politik nicht mit dem übereinstimmt. ,,Klar sind die Bänke verfeuert worde, aber des mache doch net die Jugendliche, das mache die Besoffene, die aus däm sei Kneipe komme!“ Ausweichmöglichkeit für den Fall, dass der, zu sehr aufpasst, ist für die Jugendlichen der „Rosengarten“, ein traditioneller Feierplatz mit Hütte im WaId. Der Wirt der erwähnten Kneipe legt Wert auf ältere, ordentliche Gäste, die Jugendlichen haben das mitgekriegt und gehen daher lieber zum „Hannes“. Dort kann man auch Intellektuelle treffen, die versuchen, sich durch Skat spielen eine gewisse Volksnähe zu geben. (..)

Zusammen mit meiner Freundin wollte ich mal-die Nachbarin mit in die Kneipe schleppen, weil der Mann für vier Wochen auf Montage war. Das war nicht möglich: „Die denke doch, ich will mer einen anlachen. Heut war zum Beispiel ein Versicherungsvertreter do, und der hat sei Auto direkt vorm Haus geparkt und is reinkomme. Glaub mer, ich bin bald im Boden versunke!“

Neulich mal, da war eine Pressenotiz, die die Leute in Mellnau ansprach, und später stand es auch noch mal im Mitteilungsblatt: „Wird der Burgwald noch Burgwald bleiben?“ Die geplante Autobahn soll an Mellnau vorbei mitten durch den Burgwald verlaufen. Man vermutete im Mitteilungsblatt, dass die Planungen von der Überlegung diktiert wurden, Auseinandersetzungen mit privaten Grundstücksbesitzern aus dem Wege zu gehen. Eigentlich wäre Mellnau als Touristenattraktion ja schon eine tolle Sache! „Was meinste, wie schnell die vom Ruhrpott am Wochenende mal hier wären!“ Außerdem beabsichtigten die Mittelhessischen Wasserwerke, ca. 35.OOO m3 Wasser pro Tag aus dem Burgwald in den Raum Biedenkopf zu pumpen, was allerdings den Grundwasserspiegel senken und die seltene Flora des Waldes kaputtmachen würde. Es gab zu den Planungen ein Rundschreiben, eine Resolution und eine öffentliche Veranstaltung – eine Anhörung in der Kerngemeinde durch die „Aktionsgemeinschaft – Rettet den Burgwald“. „Die solle sich net so aufrege, die da obe habe ja doch kei Geld für die Sach in de nächste zehn Jahr. „

Wenn die Männer des Dorfes zusammensitzen, auf einer Versammlung, dann ist das zunächst ziemlich ungezwungen, jeder redet mit jedem, solange, bis es offiziell beginnt. Dann werden die Reden so formell-, dass man den Zwang richtig hört. „Werte Mitbürgerinnen und werte Mitbürger“, sagt der Vorsitzende zu seinen Kumpels, und er erzählt, was vorher schon längst formlos beredet und beschlossen worden ist. Die Diskussionen sehen so aus: Jeder redet mit seinem Nachbarn oder Gegenüber – es wird ziemlich laut. Nach etwa einer Viertelstunde sagt dann der Vorsitzender: „Hört emol her! RUHE! Mensch halt emol auer Maul! AIso, wie wir jetzt diskutiert und beschlosse haben, wird … “ Bei mehreren Tagesordnungspunkten wiederholt sich alles entsprechend oft.

Mit dem, der Urs Jaeggi gelesen hat, kann man über Politisches reden. Ich lade ihn einmal ein und frage ihn, ob ich einen Text für die Jugendzeitung verständlich genug geschrieben habe: „Das würde ich nicht so machen, wissen Sie, die konservativen Eltern könnten da Gesellschaftskritik vermuten… so richtig das ist, man muss heute wieder sehr vorsichtig sein. Angesichts der politischen Situation, die wir hier im Kreis haben, rechne ich damit, wenn man da bestimmte Worte gebraucht, die in der Gesellschaftskritik der Linken da sind, dass die Leute Unrat wittern. Das gilt auch für die Stadtverordneten in der Kerngemeinde. (..)

Die Familien sind ja gar nicht mehr in Ordnung. Ich kenn das aus vielen Bauernfamilien. Gegen vor etwa dreißig Jahren, da hat die Familie Probleme bekommen, heute, gerade durch die wirtschaftliche Entwicklung – so isses doch. Die meisten Bauern haben fürn Hof nicht mehr nen Nachfolger – so isses heute. Und es ist ja auch so, dass die meisten Bauernjungen, oder sehr viele zumindest, nicht mal mehr ne Frau finden, obwohl ja die Landwirtschaft heute so weit technisiert ist, dass gegen früher ja keine Vergleiche mehr zu ziehen sind. Trotzdem ist es schon so, dass die meisten Bauernjungen, die irgendwie in die Industrie hineingeraten sind, für den Hof verloren sind, geIIe. (..)

Es ist unzweifelhaft, dass ich hier manches nicht haben kann, ich meine, wenn ich in der Stadt wohne, dann kann ich, wenn ich geistig interessiert bin, manches machen. Da lebe ich hier auf dem Land halt immer noch in einem leeren Raum – das gilt auch für die politische Arbeit.

Ich sage oft in der Partei, wenn so der Unterbezirk Versammlungen abhält, die sollten nicht alles in die größeren Orte hinein konzentrieren, denn sie lassen dann den, der am Rand wohnt, zufahren, Ich meine, es könnte ja, soweit die Möglichkeiten da sind, auch mal auf den kleinen Dörfern ein Unterbezirksparteitag sein, auch mal in Mellnau. Hier ginge es zurzeit zwar nicht, aber wir haben ja in den Nachbarorten Räume, wo es ginge. Wissen Sie, in X. wählten fast 60% NPD… wie gesagt, die Hauptsache spielt sich in Marburg ab. Das ist der Nachteil der heutigen Konzentration, dass derjenige, der in der Partei mitentscheiden will, schon ausgeschlossen ist, weil er in einem Dorf wohnt. Ich meine, der in der Stadt wohnt, kann an den Apparat ran. Ich kann nur schreiben, oder irgendwelchen Gruppen Sympathieschreiben schicken, aber mehr kann ich nicht tun. Und vor allem umgekehrt ist das so schlimm – wer kommt denn schon her?

Wahlplakat in der Dorfmitte von 1966

Was die Eingemeindung betrifft – es hat Widerstände gegeben, aber doch keine geschlossenen Aktionen dagegen. Die Leute haben sich da so treiben lassen. Gewiss, wir haben hier in der Gemeindevertretung, wie sich das nannte, uns gewehrt, aber diese Abwehr hätte organisiert werden müssen. und die von den Parteien waren sich ja ziemlich einig, und da fehlten die, die so eine Organisation hätten gestalten können. Das Gerangel innerhalb der Partei ging doch nur darum, wer Mittelpunktgemeinde werden kann. Und die, die gedacht haben, sie werden es, haben sich dafür stark gemacht – und das waren halt alle eh schon Großen. Natürlich, die Randgemeinden haben sich dagegen gewehrt, aber da war ja nichts mehr zu verhindern. Das ja eine prinzipielle, ich will mal sagen – Bewegung. Überall ist diese Konzentration jetzt immer mehr. Solche Leute wie der X waren ja aus beruflichen Gründen dafür, weil- er sich ausgerechnet hat, dass er Landrat wird. Gewiss, die Verwaltungskonzentration ist jetzt da und musste wohl so kommen, aber ob die Verwaltungsreform so richtig gemacht wird, das wird die Zukunft erst klären. Es ist halt auch verbunden mit einem Verlust an Dienstleistungsangeboten für die kleineren Orte. Zum Beispiel, die Schulen gingen weg. Für die Orte wäre es besser gewesen, man hätte die Schulen am Ort behalten, aber im Interesse der Chancengleichheit habe ich auch gesagt, dass man, die Schulen zu Mittelpunktschulen konzentrieren musste – aber das war halt so ein Dilemma für mich.(..)

Man kann es dem einzelnen an bestimmten Sachen klar machen: Du musst jetzt wegen deinem Geld in die Kerngemeinde gehen. Und das merkt man dann schon. Früher konnten wir das hier beim Rechner machen, jetzt müssen wir nach Wetter.

Aber der Deutsche ist halt noch immer so autoritär beeinflusst, dass er allem, was von oben kommt, kaum Widerstand leistet, Man hätte eine bestimmte Verfügungsgewalt den Gemeindeorganen belassen sollen, weil wir ja die Probleme, die Kleinprobleme hier in Mellnau besser kennen. Und die Bürokratie in Wetter kann ja unsere Verhältnisse auch nicht beurteilen. Wir haben hier früher manches gemacht was heute durch die Stadt mit doppeltem Aufwand gemacht wird. Gewiss, es gibt heute die Probleme der Wasserversorgung, der Kanalisation, die lassen sich nur in überörtlichen Verbänden machen. Aber die Verwaltung in Wetter lebt ja nicht aus eigenen Steuermitteln. Wir leben ja von Schlüsselzuweisungen hier, denn wir haben ja keine Industrie; und ob die Verwaltungsreform in Zukunft billiger wird, das bezweifle ich. Die Waldgebiete hier waren ja früher in der Grundsteuer selbständig. In den zwanziger, dreißiger Jahren wurden diese Forstgutsgebiete aufgeteilt und grundsteuermäßig den Gemeinden zugeschlagen. Da hatten wir ein großes Plus – wir hatten die ganzen Grundsteuern aus dem westlichen Teil des Burgwaldes bekommen. Unsre Gemarkung ging bis zum Christenberg hinauf, dadurch mussten wir unsre Bürger nicht zur Kasse bitten. Aber die Kanalisation, die ja in die Millionen geht, die hätten wir nicht tragen können. (..)

Die Entscheidungen werden ja im Magistrat getroffen, und was nicht nach außen dringen soll, das dringt eben nicht nach außen. Öffentlich sind nur die Ortsbeiratssitzungen und die Stadtverordnetensitzungen. Eigentlich müsste alle politische Arbeit überschaubarer gemacht werden – durchschaubarer.

Was mich da so persönlich interessiert, ich möchte da so an die Wahlergebnisse von 1932, wo ja noch einigermaßen freie Wahlen waren, ran – für unser Gebiet hier. Ich denke, ich weiß das, ich möchte das nur beweisen, dass das Wählerreservoir der Parteien in unseren Dörfern von der Herkunft und so, noch genauso gespeist wird – von den gleichen Schichten, wie in den dreißiger Jahren. Für Mellnau stimmt es. Ich meine, die politische Linke hat ja nie die Freiheit in Deutschland kaputt gemacht. Bei diesen Dörfern hier im Nordkreis Marburg, da können sie heute bei den Wahlergebnissen sehen, wie genau noch die alten Nazi-Dörfer und solche, die links orientiert waren, wählen. Ich meine, Mellnau war links orientiert, das Nachbardorf zum Teil. Aber hier das ganze TaI runter, die waren rechts und das spiegelt sich heute noch an den CDU-Zahlen. Die sind gegenüber hier unwahrscheinlich hoch. Das sehen Sie auch am Südkreis, wo damals der sogenannte ‚Reichsbanner‘ war, das war doch der republikanische Kampfbund. Dort wählen die Dörfer heute noch links, SPD – das ist interessant.

Ich meine, es steht ja für mich fest, dass das Wählerpotential der CDU noch aus den gleichen Schichten gespeist wird wie damals. Es hat sich nichts verändert. Und bei aller Kleinarbeit, wenn man auf die konservativen Bevölkerungsteile hier eingehen will, wenn man sie bearbeiten will, dann ist es das Verkehrteste, was man machen kann, wenn man sie schockt. Mal muss ihnen am konkreten Beispiel zeigen, dass unsere Welt nicht in Ordnung ist. Da gibt es Beispiele: Am Sonntag saß ich mit einem Sangesbruder zusammen, der hat oben den Hof bei der Kirche, und da kamen wir mit noch einem zusammen auf alles Mögliche zu sprechen. Und da erzählt der andere da, der in einem Betrieb arbeitet, wo sie Tapeten machen, von der Arbeit: Also Arbeit haben wir genug, sagt er, aber es ist folgendes eingetreten – ein Teil von uns macht Kurzarbeit und zwar aus folgendem Grund: Die Firma hat vier neue Maschinen gekauft – und an den alten haben früher zehn Leute gestanden und heute stehen an der neuen Maschine vier Leute – aber die anderen können die nicht entlassen. Also machen die Kurzarbeit, und die neuen Maschinen produzieren das Dreifache, was die alten vorher geschafft haben. Hab‘ ich zu dem gesagt, der neben mir saß (ich weiß net, der is wahrscheinlich CDU-WähIer), da siehste mal, hab ich zu dem gesagt, wie unsinnig das Schimpfen auf die Investitionslenkung ist, wie problematisch das ist – man kann durch Investitionen Arbeitsplätze reduzieren, gell! Da wurde der plötzlich ganz nachdenklich, denn man kann, was so querläuft, schon sichtbar machen. Aber es ist halt heute so, dass keine direkte, akute Not mehr da ist – gucken Sie doch mal in ne kommunistische Zeitung rein! Da wird der Unternehmer schlechtweg als ein Unmensch dargestellt Meiner Ansicht nach ist das taktisch falsch. Das Buch heißt ja auch, ich weiß net, wer das gesagt hat, Kapital und net Unternehmer.“ (Auszüge aus einem Tonbandprotokoll )

In Mellnau wählen 78% der Leute SPD. Die verbleibenden 22% schlüsseln sich auf in 35 CDU-Stimmen, 33 FDP-Stimmen, 2 DKP-Stimmen und 12 Stimmen für die NPD.

(Quelle: „Jugendarbeit auf dem Land“ Kinstle, Pobel, Schlegel 1978, nicht ausdrücklich gekennzeichnete Zitate sind Aussagen der Bewohner von Mellnau)

A.Völk

Fotos: Manfred Isenberg

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